Dass die Mama immer mit ihr gesungen hat, erklärt das musikalische Ausnahmetalent nur unzureichend. Wer immer Victoria Semel hat singen hören, ist einfach hingerissen von ihrer Stimme. Ihr Musiklehrer im Schweinfurter Celtis-Gymnasium hat eine präzise Prognose: „Die Victoria wird einmal was ganz Großes.”
Gesungen hat sie schon bevor sie richtig auf den Beinen stehen konnte. Sprechen lernen und Singen war eines. Mama Canan erinnert sich: „Als Vierjährige hat sie immer vor sich hin gekräht, hat immer gesungen, ununterbrochen gesungen.” Wenn sie vom Kindergarten abgeholt wurde, saß sie nicht wie die anderen Kinder voller Erwartung an der Tür, Victoria saß vollkommen in ihre Liedchen versunken auf der Schaukel und trällerte eine Melodie nach der anderen vor sich hin. Dann, mit elf, hat sie angefangen, sich richtige Lieder auszusuchen und zu üben, mit dem Ziel die Hits möglichst originalgetreu nachsingen zu können.
Auf das Celtis-Gymnasium wollte sie aus eigenen Stücken, der geniale musikalische Zweig hat sie von Anfang an gereizt. Den „schwerwiegenden Nachteil”, nämlich Latein, hat sie zähneknirschend in Kauf genommen. „Was tut man nicht alles für die Musik.” Das riesige musikalische Angebot, nicht nur die Bigband, Brass, ganz viele Ensembles, zwei Orchester, drei Chöre, alle Instrumente werden gelehrt, hat sie überzeugt.
Vom Celtis überzeugt
Victoria hat ganz lang Klavier belegt, die letzten zwei Jahre dann Gesang. Victoria Semel macht in diesem Schuljahr ihr Abi. Sie will dann, was wohl? Gesang studieren. Ihr Interesse richtet sich auf die Popularmusikstudiengänge: Pop, Rock, Jazz. Das wird wohl so drei oder fünf Jahre dauern und wird z.B. in Mannheim angeboten. Danach hat man ihrer Meinung nach immer noch nicht fertig studiert, man ist zwar ausgebildeter Popmusiker, darf aber immer noch nicht unterrichten. Nein, in den Schulbetrieb will sie nicht, aber CVT reizt sie.
CVT ist eine bestimmte Art von Gesangsunterricht. Eine 3-jährige Zusatzausbildung zum authorisierten CVT-Vocal-Coach ist z.B. am Complete Vocal Institute in Kopenhagen möglich. CVT wurde von der Dänin Cathrine Sadolin entwickelt. Es ist eine äußerst effektive, strukturierte Methode der Gesangstechnik. Mit ihr ist es möglich, alle Ausdrucksformen der menschlichen Stimme in sämtlichen Gesangsstilen auf gesunde Weise zu erzeugen, um frei und unbegrenzt von technischen Schwierigkeiten mit Freude singen zu können. Der Wunsch nach dem individuellen, ganz eigenen Sound steht hierbei im Vordergrund und kann mit CVT verwirklicht werden, so ist es jedenfalls im Internet nachzulesen. Das sieht Victoria eher als Rückversicherung.
Victoria will auf die Bühne
Eigentlich will Victoria auf die Bühne, Musik machen, singen. „Wenn ich alt und krakelich bin, wenn mich niemand mehr sehen will, dann will ich unterrichten.”
Das mit dem Kunstförderpreis der Stadt Schweinfurt im Januar, hat die Mama schon länger vorher gewusst, musste sich aber auf die ‚Lippen beißen‘ durfte nichts verraten.
Hohe Auszeichnung durch die Stadt
Mit diesem Kunstförderpreis werden die besonderen Begabungen junger Künstlerinnen und Künstler, die durch Geburt, Leben und Werk mit Schweinfurt verbunden sind, geehrt. Am 28. Januar haben die Sängerin Victoria Semel und der Schauspieler Max Kidd die mit insgesamt 10.000 Euro dotierte Auszeichnung erhalten. Im Rahmen eines Festaktes, der in Kunsthalle stattfand, gratulierte Oberbürgermeister Sebastian Remelé den beiden Preisträgern herzlich und überreichte die Urkunden. Die Sängerin Victoria Semel besitze „eine faszinierende, klare und ausdrucksstarke Stimme, die – ungeachtet ihres jugendlichen Alters von 16 Jahren – von einer großen Gelassenheit, Souveränität und gesanglichen Reife zeugt“, hieß es im Wortlaut der Urkunde. Noch kurz zuvor hatte Victoria den zweiten Bundesmusikpreis Jugend musiziert im Fach Popgesang abgeräumt. Ihr Kommentar: „Mama, was hab ich denn für ein Glück…”
Victoria will kein Sternchen sein,
wie sie im Zeitungsbericht über die Preisverleihung genannt wurde. Das klingt irgendwie abwertend. Britney Spears ist für sie ein Sternchen, sie verkauft sich gut und singt auch nicht schlecht, aber unter einem Künstler versteht Victoria Semel etwas anderes.
Musik muss gut sein
Auf bestimmte Musikrichtungen lässt sie sich nicht festlegen, sie mag grundsätzlich jede Art von Musik. Das kann Metal, Rock, Pop, Soul oder Jazz sein. Alles was gut ist gefällt ihr. Sie wählt immer einzelne Künstler und Stücke aus den Stilrichtungen aus, die Auswahl hat viel mit ihrer eigenen Stimmung zu tun. Am Klavier spielt sie gerne Klassik und zur Entspannung hört sie Klassik auch gerne. Das Singen von Opernarien oder klassischen Liedern ist so komplett was anderes, das kann sie einfach nicht, sagt sie.
Konzentriert auf ihre Musik
Ihre früheren Hobbys hat sie allesamt mit der Zeit abgelegt. Sie hat einmal sehr gerne geschrieben, davon geträumt einen Roman herauszubringen, hat getanzt, aber immer mehr ist die Musik in ihren Lebensmittelpunkt gerückt. „Wenn man Musik ganz gerne macht, gut sein will, dann braucht es dafür die ganze Aufmerksamkeit, da ist für nichts anderes Platz.” Lesen, das macht sie heute noch gerne, auch das Theater zieht sie an. Über eine berufliche Karriere im Bereich Musical hat sie eine ganze Weile nachgedacht. Nach einem Workshop in einer Musicalschule hat sie klar erkannt, dass die Leute, die auf eine Musicalschule gehen, reine Interpreten sind und bleiben. Sie versuchen möglichst nahe am Original zu sein, je ähnlicher am Original desto besser. Das fand und findet Victoria „überhaupt nicht cool”. Sie sucht Raum für ihre Individualität, das passt eher zu ihrem Charakter, zu ihrem Talent. Victoria lässt sich nicht in Rollen zwängen, sie will ihre eigenen Wege gehen.
Genau wir ihre Mutter ihre eigenen Wege gegangen ist
Mama Canan Semel ist in Bad Kissingen geboren, ihre beiden Brüder sind in Berlin geboren und der Papa wollte nicht, dass Schweinfurt in ihrer Geburtsurkunde steht. Die Eltern waren beide musikalisch, Mutter hat ein bisschen Klavier gespielt und alle drei Kinder haben ganz viel Musik gemacht, von klein auf. Die Brüder haben in Bands gespielt und Canan hatte das Glück am Hochfeld in eine musische Klasse zu kommen, das war damals ein Modellversuch. Im Alter zwischen sechs und zehn hat sie angefangen erst Blockflöte und dann Querflöte zu lernen. Bei der Querflöte ist sie geblieben, nach dem Abi im OMG hat sie Querflöte als Hauptfach studiert. Sie hat die klassische Musik sehr geliebt, aber ihre Liebe hat immer der Popularmusik gegolten. Eigentlich wollte sie, genau wie heute ihre Tochter, immer singen.
Atemtechnik von Flöte und Gesang sind ähnlich
Jetzt ist ja zum Glück die Flöte von der Atemtechnik mit dem Gesang sehr verwandt. Die Flöte hat nur das Loch, kein Blatt, kein Ventil dazwischen, die Atemluft strömt genauso wie bei einer Gesangsstimme. Es gibt in der klassischen Musik viele Stücke, in denen Flöte und Gesang sich im Duett einen Widerstreit liefern, den einen Charakter spielt die Flöte, den anderen die Stimme. Mit ihrer Querflöte hat sie mehrfach bei Jugend musiziert mitgemacht und ist damit bis zum Bundeswettbewerb gekommen. Aber der Gesang war und blieb ihr Traum.
In der Zeit ihres Heranwachsens waren Abba und Barbara Streisand die Idole, deren Lieder hat sie geübt, auswendig gelernt hat, bis zur Perfektion. Sie hatte das Glück, im Gymnasium einen Musiklehrer zu erwischen, der sie nachhaltig gefördert hat. Sie hat dann immer schon auch in Bands gesungen und hat ihr Ziel, professionelle Sängerin zu werden, nie aus den Augen verloren. Nach dem Studium ging es dann gleich richtig los. Canan Semel sang im Studio Demos für verschiedene Komponisten ein. Beim GrandPrix hat sie 1989 gesungen und ist in den deutschen Vorentscheid gekommen. Die ersten Plattenverträge hat sie unterschrieben, sie konnte die ersten Erfolge feiern.
In ganz Europa unterwegs
Der Einstieg bei einer Galaband, europaweit unterwegs, war ein weiterer Meilenstein in ihrer Karriere. Große Bälle, Firmenevents standen auf dem Programm. Dann kamen die Eurocats, das sind vier Frauen die bei großen Galaveranstaltungen auftreten. Die Frauen bieten eine einstündige Show mit vierstimmigem Satzgesang, mit Tanz und Entertainment. Zuletzt waren sie auf einer großen Kreuzfahrt unterwegs. Im Gegensatz zu ihrer Tochter war Canan Semel immer nur musikalischer Dienstleister, sie hat nie eigene Stücke geschrieben.
Die Hochschuldozentin für Populargesang
Als Lehrerin ist Canan Semel in eine Nische gerutscht, an den Hochschulen gab es keine Dozentin für den Populargesang. In Bamberg an der Uni bekam sie, als eine der wenigen Sängerinnen die Musik studiert haben, ihren ersten Lehrauftrag. Heute ist sie an der Hochschule in Würzburg tätig. Einen Tag unterrichtet sie an der Hochschule und zwei Tage an der Musikschule in Schweinfurt Populargesang.
Herzenswunsch erfüllt
Mit der Formation True Colors hat sich Canan Semel zusammen mit ihrem Dozentenkollegen Florian Mohr, ebenfalls von der Hochschule für Musik in Würzburg, einen Herzenswunsch erfüllt. Früher hat sie ausschließlich das gesungen, was das Publikum hören wollte, also Mainstream. Mit True Colors konnte sie jetzt zusammen mit Florian Mohr Songs präsentieren, die ihnen persönlich gefallen. Da sind durchaus auch populäre Songs dabei, aber alle haben eine eigene Interpretation oder manche sind nicht unbedingt bekannt. Das Ganze ist konzertant, also Musik zum Zuhören.
Das Fernsehgesicht
Zwanzig Jahre lang war Canan Semel das Gesicht von TV1, dem Regionalfernsehsender von Johannes Bloching, ebensolange wie TV1 gelaufen ist. „Am Anfang”, sagt sie „hab ich mit dem Moderieren angefangen, weil ich es nicht konnte…” Sie wollte die Kommunikation mit Menschen erlernen. Die Gelegenheit, das Programm zu präsentieren, Interviews und Gesprächsrunden zu führen, haben sie auch auf der Bühne weitergebracht. Darüber, dass die TV1-Zeit abgelaufen ist, ist sie heute noch traurig.
Eines bleibt zum Schluss als Fazit: Mit Victoria und Canan Semel bereichern zwei wunderbare Frauen die Kulturszene in der Region.
Jürgen Kohl
Aus dem aktuellen SWmagaz.in, zu finden unter: http://swmagaz.in/swmagaz-in-ausgabe-12-11