Ihren ersten Schrei lies die kleine Irmgard an einem Freitag von sich hören. Es war der Tag, an dem in New York waghalsige Spekulationsgeschäfte an der Börse eine Panik auslöste. Der überstürzte Verkauf von 13 Millionen Aktien hat die Kurse in den Keller getrieben und die größte Weltwirtschaftskrise aller Zeiten ausgelöst, es war der „Schwarze Freitag”.
Millionen von kleinen Sparern verlieren ihr Geld und viele Betriebe gehen auch bei uns in Deutschland in Konkurs. Die Zahl der Arbeitslosen steigt in Folge rasant an. Die kleine Irmgard kriegt in Oberndorf in der Bismarkstraße davon noch herzlich wenig mit und der „Schwarze Freitag” als Geburtstag war in ihrem weiterem Leben kein böses Ohmen. Behütet von ihrer Mutter Rosa verbringt sie ihre ersten Wochen, wie jedes andere Baby auch mit schlafen, trinken und freundlichem Babykrähen. Wirtschaftlich geht es der Familie nicht so schlecht wie vielen anderen damals in Schweinfurt. Vater Leo ist als Lockführer im Staatsdienst. Er war schon vor der Geburt seiner kleinen Tochter auf der Suche nach einer neuen Wohnung. Das Zimmerlein in der Bismarkstraße war einfach zu klein. Über Arbeitskollegen hörte er vom Bau der so genannten Eisenbahnerblocks in Schweinfurt.
Die schon 1911 in Schweinfurt gegründete Baugenossenschaft für Verkehrsangehörige der Königlich Bayerischen Verkehrsanstalten bot kleine Wohnungen zu günstigen Preisen. Der Entschluss war schnell gefasst und der Umzug des bescheidenen Hausstandes, war mit tatkräftiger Hilfe von Eisenbahnerkollegen, keine große Sache. Die neue Adresse war die Moritz-Fischer-Straße 8, also die Westseite des Eisenbahnerblocks.
Irmgard war gerade mal drei Wochen alt.
Die zwei kleinen Zimmer waren in einer Mansardenwohnung. Die Zeiten wurden immer schlechter. Fast jeder Schweinfurter war irgendwie von der Wirtschaftskrise betroffen. Die Zahl der Arbeitslosen steigt weit über die sechs Millionen. Für weitere 3 Millionen war Kurzarbeit angesagt. Alle mussten zwangsläufig zusammenrücken um zu überleben. Der sichere Job bei der Bahn im Traumberuf aller damaligen Jungs, Lokführer war nicht so gut bezahlt wie es das soziale Prestige erahnen lies. Die geringe Miete von weit unter zwanzig Mark konnte zwar aufgebracht werden, aber um sich noch was zu Essen leisten zu können mussten anderweitige Erwerbsquellen her. Leo und Rosa vermieteten ein Zimmer ihrer kleinen Dachgeschosswohnung an zwei Arbeitskollegen.
Lokführer auf den Dampfloks das waren Genies nicht nur was das Überleben anbelangt. Sie kannten jede Schraube ihrer Maschine bis ins kleinste Detail. Frauen auf diesen Ungetümen waren damals undenkbar. Solche Abenteuer mutete man nur Männern zu. Die Arbeitsbedingungen waren nicht gerade gesund. Jeden Tag hatten die Lokführer mit Wind und Wetter zu kämpfen. Die Führerstände waren offen. Zwar hatten die Herren den Zylinder als Arbeitskleidung schon abgelegt aber die Lokführermütze verhinderte ebenso gut, dass sich heiße Asche in den Haaren verfangen konnte. Leo war bis ins hohe Alter stolz auf seine dichte Haarpracht. Seine Frau Rosa hütete in der traditionellen Frauenrolle das Haus und sorgte sich um die kleine Irmgard. Ziemlich schnell kamen zwei Schwestern dazu, Helga und Hiltrud. Jetzt war endgültig für Untermieter kein Platz mehr.
So schnell wie die Dampfloks auch im Güterzugbereich von den elektrischen Lokomotiven abgelöst wurden, veränderte sich der Arbeitsplatz des Lokführers. Ein geschlossener Führerstand, Fenster in Fahrtrichtung und keine seitlichen Gucklöcher mehr. Leo Habermann kam fortan nicht mehr rußgeschwärzt in die kleine Wohnung in der Moritz Fischer Straße.
Geblieben ist der Schichtdienst. Die Kinder mussten Rücksicht nehmen auf den am Tag schlafenden Vater. Ausweichen war bei gutem Wetter kein Problem. Im Innenhof der Eisenbahnerblocks war viel Platz für spielende Kinder.
Im Winter und bei Regenwetter wurde das Spiel einfach zu Nachbarn verlegt deren Väter gerade nicht zu Hause geschlafen haben. Der Eisenbahnerblock war immer eine ganz große Familie. Die Kontakte der Mieter untereinander waren zwangsläufig eng. Der Innenhof war der Marktplatz. Überall gab es damals schon Sitzbänke.
Als dann der Krieg auch in Schweinfurt mit aller Macht einschlug blieben auch die Eisenbahnerblocks nicht verschont. Der Luftschutzbunker war für Irmgard und ihre Schwestern eine mit Angst besetzte Zufluchtsstätte. In den letzten Kriegstage schlug schräg gegenüber vom Küchenfenster eine Bombe ein. Die ganze Wohnung war voller Glassplitter, Dreck und Sand. Irmgard hatte Glück, die Wohnung konnte notdürftig wieder hergerichtet werden. Viele andere Häuser der Baugenossenschaft wurden völlig zerstört. Zum Glück war im Mai 1945 der Krieg zu Ende und schon im Sommer 1949 waren alle Spuren beseitigt und der Wiederaufbau abgeschlossen. Das Wirtschaftswunder fand auch im Eisenbahnerblock statt. Alle hatten wieder zu Essen, die Angst war vergessen und die 16-jährige Irmgard bekam eine Lehrstelle als Schneiderin.
1950 gründete Irmgard einen eigenen Hausstand heiratete ihren Kurt. Im März 1951 zogen sie, damals waren sie schon zu dritt, ihre erster Sohn Klaus war schon auf der Welt, in die Ignaz-Schön-Straße 4. Diese Straße auf der Südseite des gleichen Blocks hieß damals noch Steinstraße. Es war wieder eine Mansardenwohnung, jetzt aber mit 3 kleinen Zimmerchen. Kurt war ebenfalls Eisenbahner und als Schaffner unterwegs. An ein Badezimmer war zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht zu denken.
Schichtdienst und unregelmässige Arbeitszeiten war das Los aller Eisenbahner und ist es heute noch. An die Miete kann sich Irmgard noch genau erinnern, das waren bescheidene 24 Mark. 1954 kam der Sohn Harald dazu und 1962 der Nachzügler Thomas.
Mit drei Kindern, einem Mann im Schichtdienst und vielen Freunden der Kids, einer ihrer Cousins war zeitweise Dauergast in dieser kleinen Wohnung auf knapp 60 Quadratmetern. Gewaschen und die Zähnegeputzt wurde in der Küche, das war die einzige Wasserstelle in der Wohnung neben der Klospülung. Erst 1966 sind Bäder eingerichtet worden mit einem Gasdurchlauferhitzer der immer beim Einschalten laut geknallt hat.
Trotzdem gibt es heute keinen aus dieser Familie der sich nicht gerne an diese Kindheit erinnert, keiner hat irgendwie einen Mangel zu beklagen, der Eisenbahnerblock war das Paradies für alle Kinder. Erst 1990, nach dem ihr Kurt war 1987 leider viel zu früh verstorben, hat Irmgard die Mansardenwohnung gegen eine Wohnung im zweiten Stock getauscht. Vor zwei Jahren sind ihr dann auch die Treppen in den zweiten Stock zu beschwerlich geworden und eine Erdgeschosswohnung war das Ziel ihrer Wünsche. Heute wohnt sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten immer noch im Eisenbahnerblock, wieder in der Moritz-Fischer-Straße, genau ein Haus neben dem Haus in das sie 1929 als Baby eingezogen ist.
Nach allen Recherchen dürfte Irmgard heute die älteste Bewohnerin im Eisenbahnerblock sein. Sie fühlt sich immer noch wohl da. Einzig die Miete, das sind heute 418 Euro ohne Nebenkosten für eine Dreizimmerwohnung mit 57 qm, hat sich nach ihrem Gefühl von den Sozialgedanken leicht entfernt. 1911 bei der Gründung der Genossenschaft stand als Zweck in der Satzung: „… die Beschaffung von billigen und gesunden Wohnraum für die Genossen”.
Text und Bilder: Jürgen Kohl – jkohl@revista.de