Man kommt ganz schön ins Schnaufen bis man die steilen Stufen im Unterdorf 29 zum Wohnzimmer von Oliver Brust hinauf gekraxelt ist.
Oliver Brust wohnt im Torhaus. Das Torhaus war ein Teil der Dorfbefestigungsanlage von Geldersheim. Ganz früher waren es drei Tore – eines Richtung Schweinfurt, eines nach Westen und eines Richtung Würzburg. Da gibt es eine alte Geschichte, von der man nicht weiß ob sie stimmt: Die Geldersheimer hatten in irgendeinem Streit mit der Stadt nicht Recht behalten und mussten als Sühne eine bestimmte Menge Steine an die Stadt liefern. Die Stadt konnte damit ihre Stadtmauer größer machen und die Geldersheimer hatten keine mehr.
Eigentlich hatten Dörfer ja keine Befestigungsanlage, es gab aber Ausnahmen, wie das Beispiel Geldersheim zeigt.
Ob der Fachwerkaufbau erst später auf dem Tor aufgebaut wurde ist nicht bekannt, aber es ist eher wahrscheinlich. In früheren Zeiten war das Torhaus der ‚Soziale Wohnungsbau‘. Bewohnt haben das der Hirte und Leute, die irgendwelche Dienste für die Allgemeinheit getätigt haben.
Das Torhaus hat ihn faszinert
Schon den kleinen Oliver hat, als er gerade mal seine ersten Schritte machen konnte, das Torhaus magisch angezogen. Er wollte immer schon wissen, wie es drinnen aussieht, ihm ist das Torhaus immer wie eine geheimnisvolle Burg erschienen. Irgendwann an einer Kirchweih hat ihn ein Erwachsener in diese geheimisvolle Behausung geschickt, mit der Maßgabe der Bewohnerin namens Rita ein Lebkuchenherz zu überbringen. Endlich Gelegenheit für den kleinen Ollie einen Blick in das geheimnisvolle Innere werfen zu dürfen. Im heutigen Wohnzimmer war die Küche. Wasseranschluss war in der Küche keiner und die Bewohnerin musste sich das Spülwasser vom Wasseranschluss in der Toilette mit einer Schüssel in die Küche holen. Nach dem Abwasch war das Abwasser auch wieder auf diesem Wege zu entsorgen.
Als die Rita ins Altenheim umgezogen ist, ergab sich für den dann schon erwachsenen Oliver Brust Gelegenheit, die ganze ‚Immobilie‘ einmal näher zu besichtigen. Die Idee, in diesem Torhaus zu wohnen, hat ihn von da an nicht mehr losgelassen.
Handwerkliche Begabung
Eine nur sehr durchschnittliche handwerkliche Begabung war Oliver Brust in die Wiege gelegt, was ihn nicht daran hinderte seinen Plan voran zu treiben. Die Gemeinde hatte, um das Bauwerk zu erhalten, den Turm von außen saniert, ohne eine bestimmte Nutzung im Auge zu haben. Was mit dem Torhaus letztendlich geschehen sollte, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand. Es war eine reine Bestandsicherung für das dörfliche Wahrzeichen.
Irgendwann hat sich Oliver Brust seiner Bürgermeisterin anvertraut, mit seinem Wunsch in das Torhaus einziehen zu wollen. Bei der ersten richtigen Besichtigung, auch unter baulichen Gesichtspunkten, waren ein paar Studienkollegen von Oliver Brust dabei. Normal gewachsene Menschen müssen sich auch heute noch bücken, um bei den niedrigen Türstöcken nicht mit dem Kopf am Türrahmen anzustoßen. Die Leute waren eben früher einfach kleiner. Die Bürgermeisterin hat ihm den Schlüssel überlassen, er solle das genau überdenken.
‚Schlachtplan‘ mit den Kommilitonen
Zusammen mit seine Kommilitonen hat sich Oliver Brust einen ‚Schlachtplan‘ ausgearbeitet, wie sie das alte Gemäuer einigermaßen bewohnbar machen wollten. Oliver Brust wollte schon so wohnen, wie eben die Leute früher gewohnt haben. Er wollte aus dem Torhaus keine moderne Studentenbude machen. Das Verlangen nach einem Mietvertrag ist bei der Bürgermeisterin auf recht großes Erstaunen gestoßen. Aber Ruth Hanna Gube hat Wort gehalten und Oliver hatte seinen Mietvertrag in Händen.
Die Ärmel hochgekrempelt
Das ganze Dorf hat die Aktivitäten um das Torhaus und darum herum mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein ganzes Semester hat es ihm und seinen Freunden gekostet. Im Jahr 2000 konnte Oliver Brust endlich einziehen. Er gibt zu, dass er nicht alle ursprünglichen Ideen realisieren konnte und eigentlich in ein Professorium gezogen ist.
Dass die Jungs bei diesen Arbeiten teilweise wirklich handwerkliches Neuland betreten haben, erzählt er heute mit Schmunzeln. Beim Entfernen der unzähligen alten Tapetenschichten ist die halbe Wand mit heruntergekommen. Ausbesserungen haben sie dann mit Gips gemacht und mit einer speziellen Grundierung überstrichen. Über das Ganze haben sie Rauhfasertapeten geklebt, nur damit die großflächigen Gipsausbesserungen den nötigen Halt bekamen.
Die Rauhfaser haben sie dann bearbeitet wie man früher eine verputzte Wand behandelt hat. Man hat die Wände in einem Pastellton gestrichen, mit einer Gummiwalze auf die Muster eingeschnitten waren gerollt, aber nur ungefähr zwei Drittel der Raumhöhe und dann kam eine handgepinselte Borde. Die Wandteile im oberen Drittel wurden ebenfalls grundiert und dann mit alten Mustern und den Originalen nachempfundenen Schablonen mit der Hand getupft.
Viel Handarbeit und Leidenschaft
Auf den Fußböden lagen zigfach PVC- und Linoleumbeläge übereinander. Darunter die Bretterböden mussten erst einmal abgeschliffen werden. Dass die alten Böden auch eine isolierende Funktion hatten, merkte der neue Bewohner spätestens nach den ersten kalten Tagen. Unter den kleinen Räumen ist halt nur Luft und sonst nichts. Das war im Jahr 2000 und Oliver Brust hat jetzt schon den dreizehnten Winter hinter sich. Zweimal ist ihm die Wasserleitung eingefroren und er brauchte Hilfe von einem professionellen Klempner. Es sind die vier Zimmerlein, die genau über der Straße sind: Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Küche und Schlafzimmer. Alle anderen Räumlichkeiten hat er noch in ihrem Originalzustand belassen, auch die Toilette. Es gehört schon eine gewisse Pfadfinderhärte, dazu sich im Winter mit kaltem Wasser zu waschen und es beim Toilettengang nicht gemütlich warm zu haben. Zum Baden oder Duschen bleibt Oliver Brust auch heute noch nur der Gang ins Elternhaus mit Fußbodenheizung und allem erdenklichen Komfort. Das alles macht ihm aber sein Torhaus nicht madig.
Der Plan, in diesem Jahr weiterzumachen, um auch den Rest des Häuschens an die Zivilisation anzupassen, reift so langsam in seinem Kopf. Die exponierte Lage im Dorf und im Sommer sein eigner ‚Garten‘ sind ganz andere Qualitäten, die Oliver Brust auf keinen Fall missen möchte. Wenn er sich jetzt, wenn die Tage länger werden und die Temperaturen steigen, nach Feierabend mit einem Schoppen auf die kleine Bank vor seinem Häuschen setzt, bleibt er nie alleine. Immer kommen irgendwelche Freunde oder Bekannte dazu und es wird geredet, oft bis mitten in die Nacht. Wer kann schon von sich sagen, er wohne im Kommunikationszentrum des Dorfes.
Oliver ist Geldersheimer aus Leidenschaft
Er ist hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Lediglich die Bildung hat ihn aus dem Dorf getrieben, sein Abi hat er im Humboldt gemacht. Zum Zivildienst ist er gleich wieder in das Dorf zurückgekehrt, er hat ihn im Altersheim abgeleistet. Eine Lehre bei der Sparkasse als Bankkaufmann brachte ihm einen Arbeitsplatz, der leicht mit dem Fahrrad erreichbar war und er am Abend wieder daheim sein konnte. Seine ursprüngliche Idee, irgendeine Ausbildung im Bereich Heimatpflege zu machen, scheiterte an mangelnden Berufsaussichten.
Firmenkundenberater bei der Sparkasse
Das Studentenförderungprogramm der Sparkasse ermöglichte ihm ein BWL-Studium an der Uni in Würzburg. Ferienjobs in der Sparkasse haben dafür gesorgt, dass der Kontakt zu den Geldgeschäften nie abgerissen ist. Dieses Förderungprogramm der Sparkasse bot dem Studenten ein Studium mit der Sicherheit der Sparkasse im Hintergrund, auf Basis von unbezahltem Urlaub, währenddessen aber das Arbeitsverhältnis bestehen blieb. Heute ist Oliver Brust als Firmenkundenberater bei der Sparkasse Schweinfurt tätig. Seine ehrenamtlichen Tätigkeiten werden vom Arbeitgeber geschätzt und er fühlt sich in seinem verantwortungsvollen Job bei seiner Sparkasse wirklich wohl.
Der Vater stammt aus Sennfeld
Oliver Brust hat sich schon von klein auf für alte Sachen interessiert. Seine Familie väterlicherseits stammt aus Sennfeld. Die Sennfelder Kirchweih war für ihn und die ganze Familie alljährlich das größte aller Feste. Er erinnert sich heute noch ganz genau: Am Kirchweihsamstag sind die Planburschen mit dem Fichtenbaum und der Musik eingezogen. Genau an seiner Nase in Omas Garten vorbei, hat er sich gewünscht dabei zu sein. Mit achtzehn hat er es geschafft und wurde in Sennfeld Planbursche. Mit Sennfeld verbindet ihn heute noch ganz viel.
Die alten ‚Fräälie‘
Was ihn auch begeistert hat waren die alten ‚Fräälie‘, die in Geldersheim noch ihren Alltag ganz normal mit ihrer Tracht gelebt haben. Mit dem Zusammenhang von Kleidung, die dem Anlass entsprechend getragen wurde, ist Oliver Brust aufgewachsen. Irgendwann sind die Eltern in Euerbacher Tracht von einem Volkstanzkurs nach Hause gekommen. Die Kinder wollten auch solche Kleider.
Am Anfang stand die Euerbacher Tracht
1987 ist Oliver Brust zusammen mit seiner Schwester in den Euerbacher Trachtenverein eingetreten, ein Jahr später als die Eltern. 1988 kam vom damaligen Bürgermeister Hubert Hübner der Wunsch, einen Heimatverein zu gründen. Es ging ihm um den Erhalt alter Bräuche und Gerätschaften. Senior und Junior Brust haben den Bürgermeister davon überzeugt, dass in der ganzen Fachliteratur von der Geldersheimer Tracht die Rede war, wenn Bezug auf die Trachten im Landkreis genommen wurde. Der Aufbau einer Trachtengruppe innerhalb des Heimatvereines war beschlossene Sache. Die beiden Brusts wurden mit dem Aufbau betraut. Heute hat der Heimatverein 220 Mitglieder, davon ganz viele in Tracht und Brauchtum und Trachten spielen eine ganz große Rolle. Ganz aktiv ist auch die Theatergruppe innerhalb des Vereins.
Anerkennung für seine Arbeit
Seine Arbeit und sein Engagement für die Tracht hat über die Landkreisgrenzen hinaus Anerkennung gefunden. Oliver Brust ist noch Vorsitzender vom Unterfränkischen Trachtenverband. Seiner Arbeit ist es wohl zu verdanken, dass die unterfränkische Tracht von der südbayerischen ‚Übermacht‘ heute mit Anerkennung beachtet wird. Alleine schon die rechnerische Verhältnismäßigkeit spricht Bände. Ganz Unterfranken hat rund 3000 Mitglieder (die passiven mitgerechnet), so groß sind in Südbayern manche Ortsverbände. Die Tracht hat dort aus verschiedenen Gründen einen größeren Stellenwert, auch noch im Alltag.
‚Mir san mir‘
Das typische ‚Mir san mir‘ findet oft auch in der Tracht seinen Ausdruck. Es ist für viele Südbayern eine Selbstverständlichkeit am Sonntag z.B. zum Kirchgang die Tracht anzuziehen. Seine Vereinsmitglieder hier bei uns ohne besonderen Anlass zum Kirchgang in Tracht zu bewegen, ist wie Oliver Brust sagt „… schon ein Kraftakt”.
Er bedauert, dass die Tracht aus dem Alltagsleben bei uns langsam ganz verschwunden ist. Er hätte gerne ein bisschen zurück von dieser Lebensweise. Es ist einfach ein schöner Anblick, wenn Leute in Tracht die Straße bevölkern. Oliver empfindet die Tracht als ein Stück der heimatlichen Identität. Den Heimatstolz nach außen zu tragen und zu leben wäre ihm wichtig.
Das hat nichts damit zu tun, dass Billig-Dirndl von der Stange aus Materialien, die aus der Kunststoffspritzmaschine kommen, auf dem Oktoberfest fröhliche Urständ feiern. Trotzdem bleibt festzustellen, dass bei den Dirndl- und Lederhosenträgern doch eine Sehnsucht nach der heilen Heimat besteht.
von Jürgen Kohl – jkohl@revista.de
aus dem aktuellen SWmagaz.in: http://swmagaz.in/swmagaz-in-ausgabe-04-2012