Sankt Peter-Ording: Die Selbsthilfegruppe diabetischer Kinder und Typ 1-Diabetiker Schweinfurt veranstaltete in der ersten Ferienwoche ihre achten Schulungstage – diesmal wieder an der See.
13 Teenager im Alter von 13 bis 16 Jahren und der 20-jährige Oli sollten aus dieser Fahrt neue Motivation zur Bewältigung der Krankheitsproblematik im Zusammenhang mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus schöpfen und ihr theoretisches und praktisches Wissen vertiefen. Die Schulungssequenzen waren eingepackt in ein attraktives Rahmenprogramm. Für die Organisation zeichnete wie immer Norbert Mohr, der Vorsitzende der Selbsthilfegruppe (SHG), verantwortlich. Die ärztliche Betreuung, die Schulungen und die individuellen Therapiebesprechungen übernahm traditionell der Diabetologe Dr. Reinhard Koch, der als leitender Oberarzt in der Klinik für Kinder und Jugendliche des Leopoldina Krankenhauses tätig ist und dort in der Ermächtigungsambulanz pro Quartal ca. 75 Diabetespatienten im Kindes- und Jugendalter betreut. Die zwei erfahrenen Pädagoginnen Biggi Pötzl-Koch und Ursel Mohr ergänzten das Team in bewährter Art und Weise.
Während es daheim kalt war und oft regnete, hatte die Gruppe im Campus Nordsee in Sankt Peter-Ording tolles Wetter. Schulungssequenzen, Sport und Freizeit und ein bisschen Seelenpflege machten diese Woche wieder zu einem besonderen Erlebnis.
Die Anreise am Dienstag mit zwei gemieteten 9-Sitzer-Bussen dauerte wegen mehrerer Staus fast neuneinhalb Stunden. Nach dem Bezug der Zimmer im Kiefernhaus traf sich die Gruppe im Schulungsraum im Lärchenhaus, der für die ganze Woche zur Verfügung stand. Nach der Kennenlernrunde erarbeiteten die Teilnehmer die Regeln des Zusammenlebens für die kommende Woche. Die Regeln wurden ebenso wie die Erwartungsabfrage auf dem Flipchart notiert. Diesmal musste sich die Gruppe nicht selbst um das Essen kümmern. Die Mensa des Campus-Nordsee steht den Schülern einer europäischen Schule, Internatsschülern und anderen Gästen zur Verfügung. Frühstück und Abendessen waren recht gut, das Mittagessen war zwar nicht schlecht, aber nichts für verwöhnte Gaumen.
Der Mittwoch begann – wie jeder Morgen – mit einem gemeinsamen Morgenspaziergang. Nach der Erhebung der individuellen Diabetesdaten und Absprache für die täglich zu fertigenden Aufzeichnungen (Tagesprofile mit mind. sechs bis sieben Blutzuckermessungen, Notieren von Broteinheiten und Einheiten des gespritzten Insulins) stellten Frau Jeannette Birkholz (vom Sponsor Mediq Direkt) und Dr. Reinhard Koch Vor- und Nachteile einer Insulinpumpentherapie vor. Fünf Jugendliche und, wie immer, Dr. Koch legten eine Insulinpumpe zur Probe an, die sie für mehrere Tage trugen, um zu sehen, ob sie mit diesem „Anhängsel“ zurechtkämen. Oli ließ sich die Pumpe gleich mit Insulin füllen – er wird sich nach den Schulungstagen zusammen mit seinem Diabetologen um die Genehmigung einer Therapieumstellung bemühen. Am Nachmittag ging es dann an den Strand. Die Strände Sankt Peter-Ordings sind breit, nicht nur bei Ebbe. Beim ersten Strandausflug pfiff der Wind und trieb den Sand über den Boden, so dass Fotos aus der Froschperspektive aussahen als handle es sich um einen Schneesturm. André, genannt Andy, war der einzige, der sich an diesem Tag ins Wasser traute, schon um die Animas-Pumpe auf Wasserdichtheit zu testen. Norbert Mohr stellte am Abend das Blutzuckermessgerät Wellion „Calla“ des zweiten Sponsors MedTrust vor und gab an jeden Diabetiker ein Gerät mit einer ausreichender Menge Teststreifen aus. Der Abend klang bei dem Film „Alice im Wunderland“ aus, der im Lehrsaal über den gruppeneigenen Beamer an die Wand geworfen wurde. Die für 23.00 Uhr ausgemachte Nachtruhe wurde übrigens weitgehend eingehalten – jedenfalls waren die Jugendlichen jeden Morgen um 08.00 Uhr bereit zum Spaziergang.
Da die Unterzuckerungen (Hypoglykämien) aufgrund der für die meisten Teilnehmer ungewohnten Bewegung zunahmen, passte die Schulung am Donnerstag über Diabetes und Sport (Gruppenarbeit) genau ins Konzept. Die Jugendlichen erarbeiteten Strategien, wie sie auf außergewöhnliche Aktivitäten oder sportliche Belastungen reagieren könnten und stellten das im Plenum vor. Hierbei wurde unter anderem erkannt, dass eine Reduzierung des Basalinsulins und das Mitführen von sog. Not-BE wichtig sind und dass die Gefahr einer Unterzuckerung auch noch Stunden später besteht. Die Schutzstation Wattenmeer stellte am frühen Nachmittag Tanja, eine frisch gebackene Abiturientin als Führerin für die dreistündige Wattwanderung ab. Äußerst kompetent und eloquent ließ Tanja die Zeit förmlich verfliegen. Neben naturwissenschaftlichen Basics, insbesondere über die Einflüsse von Mond und Sonne sowie von Fliehkraft auf die Gezeiten, waren es die Informationen über das Leben im Watt, das die Gruppe interessierte. Tanja gab Kescher aus und in einem Priel wurden Krabben, Garnelen und Quallen gefangen und vorübergehend in einem Glas gefangen gehalten, um sie genauer betrachten zu können. Ein Highlight war sicher die Information über den Wattwurm. Der zur Klasse der Vielborster im Stamm der Ringelwürmer gehörende Wattbewohner ist durch seine Lebensweise im Sand des Watts charakteristisch für die Ökologie des Wattenmeeres. In der breiteren Öffentlichkeit zählt er zu den bekanntesten Tieren des Watts, was insbesondere an seinen allgegenwärtig scheinenden charakteristischen Kothaufen im Watt liegt. Er frisst ständig den Sand des Wattes und filtert dort die organischen Stoffe heraus, welche er dann verwertet. Weiterhin bleibt er mobil und trägt so zur Destabilisierung und Umwälzung des Wattbodens bei. So fressen die Wattwürmer der Nordsee einmal im Jahr den gesamten Sand des Wattes oberhalb von 20 cm Tiefe. Ein einzelner Wattwurm filtert dabei 25 kg Sand jährlich. Ein beim Ausbuddeln verletzter Wurm blutete. Schnell war da das Messgerät gezückt und der Blutzucker bestimmt: 96 ml/dl – das entspricht genau dem optimalen Mittelwert eines gesunden Menschen. Vor dem Abendessen war noch genug Zeit für Volleyball auf den Beach-Feldern des Campus. Am Abend rundete Dr. Koch das Thema Diabetes und Sport ab und im Anschluss schrieben die Jugendlichen einen Brief über ihren Diabetes und die damit verbundenen Probleme, Ängste und Bedürfnisse und steckten ihn in eine Flasche. Der Abend klang bei Gesellschaftsspielen aus.
Der Freitagvormittag wurde für einen Ausflug in das etwa 40 Kilometer entfernte Husum genutzt. Nachdem die Flaschenpost dem Meer übergeben worden war, erkundeten die Jugendlichen in Kleingruppen die Stadt. Hier war Zeit für den Einkauf des einen oder anderen Kleidungstücks oder Mitbringsels. Zufällig beherrschte den Hafen und einen großen Teil der Altstadt ein volksfestähnlicher Markt mit vielen Ständen, die Gelegenheit für den Erwerb von Krabbenbrötchen boten. Der Nachmittag lud bei schönstem Wetter zu Fußball, Volleyball und Abhängen am Strand ein. Am Abend wurde im Lehrsaalkino der Film „Percy Jackson“ gezeigt.
Auf Wunsch der Jugendlichen drehte sich die Schulung am Samstag um „Diabetes und Alkohol“. Hier versuchte Dr. Koch die Teens allgemein dafür zu sensibilisieren, vorsichtig im Umgang mit Alkohol zu sein. Erstaunlich war das Wissen, das die Jungendlichen während der Gruppenarbeit zu Papier brachten. Einige wesentliche Erkenntnisse waren, dass der Alkohol den Prozess der Blutzuckerfreisetzung in der Leber hemmt und der Typ 1-Diabetiker zusätzlich unregelmäßige, teils hohe Insulinspiegel durch Injektionen hat, was Hypoglykämien begünstigt. Je mehr Alkohol konsumiert wird, desto größer ist die Gefahr. Kohlenhydrathaltige Alkoholika sind gegenüber sogenannten Diabetikeralkoholika zu bevorzugen. Man soll zu und nach Alkoholkonsum kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel essen. Häufigere Blutzuckermessungen sind während des Alkoholkonsums, aber auch noch am Tag danach zu empfehlen. Am Nachmittag fand der Ausflug nach Bad Segeberg zu den Karl-May-Festspielen statt. Bei der Inszenierung von „Halbblut“ saßen die Jugendlichen bei bestem Sommerwetter in der beeindruckenden Freiluftbühne am Kalkberg inmitten eines Indianerüberfalls, knallender Colts, galoppierender Rothäute, großer Explosionen und packender Zweikämpfe. Da die Rückkehrzeit bereits nach Schließen der Mensa war, ließ sich die Gruppe das Abendessen bei einem Italiener im Ortsteil Dorf schmecken.
Am Sonntag malten alle Jugendlichen unter der Anleitung von Biggi Pötzl-Koch, die auch schon das Thema mit der Flaschenpost moderiert hatte, ein Bild mit Acrylfarben auf Leinwand. Die Jugendlichen sollten sich als Kitesurfer malen, wobei der Kite (Lenkdrachen) den Diabetes und das Meer den Alltag, die Umwelt symbolisierte. Viele hatten ihren Kite fest im Griff, wenn auch das Meer hin und wieder unruhig dargestellt wurde. Am Nachmittag teilte sich die Gruppe, um an den Strand oder in die Therme mit Wellenbad zu gehen. Am Abend wurden die Bilder fertiggestellt und der Kitesurfer mit Edding-Stiften über die Acrylfarbe in das Bild eingefügt. In einem Blitzlicht wurden anschließend die am ersten Tag geäußerten Erwartungen an die Schulungstage und die Ergebnisse abgeglichen – es bestand weitestgehende Übereinstimmung: Die Jugendlichen konnten andere Diabetiker kennenlernen und mit Gleichgesinnten ihre Einstellung zum Diabetes überdenken, ungezwungen messen und spritzen, es hatte ja jeder Diabetes und somit war das die Normalität. Außerdem sei der Urlaubsgedanke, Sport und Spaß nicht zu kurz gekommen, so die Rückmeldungen. Der Abend klang bei bester Stimmung und den Fotos der Woche aus.
Die Rückreise am Montag verlief ohne Stau und bei der Abholung durch die Eltern fiel manchen der Abschied offensichtlich schwer – ein gutes Zeichen!
Resümee:
Die Schulungstage verliefen ohne Zwischenfälle. Die Teilnehmer hielten sich an die Absprachen und es wurde weder geraucht noch Alkohol getrunken. Konsequent waren auch alle pünktlich um 08.00 Uhr am Start zum morgendlichen Spaziergang vor dem Frühstück. Jugendliche sind für „normale“ Schulungen eher schwer zu motivieren. Für eine Gruppenschulung in einer Klinik fühlen sie sich meist zu alt und unter Erwachsenen, meist Typ 2-Diabetikern, sind sie auch fehl am Platz. Der besondere Arzt-Patient-Dialog im Rahmen von Schulungstagen abseits von Praxis und Klinik, quasi ähnlich einer „Ferienfreizeit“, ist eine besondere Chance, Jugendliche zu erreichen und auf ein unabhängiges und eigenverantwortliches Leben mit dem Diabetes vorzubereiten.
Herzlichen Dank an dieser Stelle an die Sponsoren Mediq Direkt, MedTrust, Frau Pfab aus München, Frau Burtchen aus Fuchsstadt bei Hammelburg und an den Runden Tisch der Krankenkassen für die Projektförderung.
Noch eine Anmerkung zu den Kosten:
Die Eigenbeteiligung der Teilnehmer betrug 220 Euro. Außer dem Zuschuss durch den Runden Tisch der Krankenkassen in Form einer Projektförderung mit einem geringen vierstelligen Betrag kostete diese einwöchige Schulung mit medizinischen, psychologischen und ergotherapeutischen Inhalten dem Gesundheitssystem keinen Euro. Alle Betreuer stellten ihre Zeit und Arbeitsleistung ehrenamtlich und unentgeltlich zur Verfügung. Würde ein solch breit gefächertes Angebot über eine stationäre Rehamaßnahme in einer Klinik angeboten, hätten die Krankenkassen einen Betrag zwischen 50.000 und 70.000 EUR aufzubringen.